Als Lehrer werde ich des Öfteren gefragt: „Herr Michel, was wählen Sie eigentlich?“ oder „Herr Michel, was halten Sie von der AFD?“ Das bringt mich in eine Situation, die schwierig zu händeln ist. Ich überlege dann, was der Grund der Frage ist. Steht hier wirklicher Erkenntnisgewinn im Vordergrund? Was soll mit der Frage nach meiner Positionierung erreicht werden?
Es ist gut und richtig, über Politik, Weltgeschehen und alle Themen, die die Lernenden bewegen, zu sprechen. Das zeigt auch, dass ein gutes Vertrauensverhältnis besteht. Doch kann ich hier in meiner Funktion als Lehrer Schwierigkeiten bekommen, wenn ich die sogenannte Neutralitätspflicht, die so oft vehement eingefordert wird, verletze? Doch halt: Gibt es eine solche überhaupt?
die drei Grundsätze des Beutelsbacher Konsens
Die sogenannte Neutralitätspflicht ist eine falsche Interpretation des Beutelsbacher Konsens, der die politische Bildung in Schulen als Leitlinie prägt.
Dr. Markus Gloe und Prof. Dr. Tonio Oeftering fassen die drei Grundsätze des Beutelsbacher Konsens und die Fehlinterpretation in ihrem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung gut zusammen:
„[…]Der Beutelsbacher Konsens umfasst drei Grundsätze:
Erster Grundsatz: Überwältigungsverbot
»Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ›Gewinnung eines selbständigen Urteils‹ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers« (Wehling 1977: 179 f.).
Zweiter Grundsatz: Kontroversitätsgebot
»Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste [sic!] verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders heraus arbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind […]« (ebd.).
Dritter Grundsatz: Interessenlage
»Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist […]« (ebd.). Seit der Veröffentlichung der Tagungsdokumentation war und ist der Beutelsbacher Konsens Gegenstand teils lebhafter Diskussionen (vgl. Schiele / Schneider 1996; Widmaier / Zorn 2016b). Wurde er einerseits gelobt und darauf hingewiesen, man müsse den Konsens, so es ihn nicht schon gebe, erfinden (vgl. Oberle 2016: 257), wurde er andererseits immer wieder kritisiert und zuweilen gar als »Blödmaschine« infrage gestellt (Rößler 2016).
Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt ist der, die Kehrseite des Kontroversitätsgebots sei ein Neutralitätsgebot, welches zur Entpolitisierung der politischen Bildung beitrage, weil reale Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht ausreichend in den Blick genommen würden (vgl. Hammermeister 2016). Hierbei handelt es sich allerdings um »Fehlinterpretationen « (Hoffmann 2016: 197; vgl. auch Salomon 2016: 286; Sander 2016:297), denn »eine solche Vorstellung [findet] sich weder in Wehlings Formulierung zu den Beutelsbacher Ergebnissen noch in der nachfolgenden politikdidaktischen Diskussion« (Sander 2016: 298). Aus der kontroversen Darstellung der Unterrichtsinhalte folgt demnach nicht, dass die Lehrkraft keine eigenen Positionen haben und aufzeigen darf.
Diese Feststellung ist in zweierlei Hinsicht relevant: einmal für kontroverse Unterrichtssituationen, die sich innerhalb des Rahmens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen, und einmal für kontroverse Unterrichtssituationen, die diese Grenzen überschreiten.
In ersterem Fall besteht die Herausforderung für die Lehrkraft darin, die eigene Position auf eine nicht überwältigende Art und Weise in den Unterricht einzubringen. Ein schmaler Grat, denn Lehrende werden immer auch als (positive oder negative) Vorbilder wahrgenommen, deren Überzeugung tatsächlich verinnerlicht oder auch nur aus Opportunismus übernommen werden kann. Ein hieraufhin reflektierter Unterricht ermöglicht jedoch eine konstruktive, wie Peter Henkenborg im Anschluss an Siegfried George formuliert, »Kultur des Dissenses« (Henkenborg 2016: 191), die den Lernenden ermöglicht, »in einer nicht überwältigenden Lernsituation kontroverse Positionen kennenzulernen, ihre eigenen Interessen zu entdecken und Möglichkeiten aufgezeigt zu bekommen, diesen Interessen gemäß zu handeln« (Oeftering 2019b: 671).
Im zweiten Fall wird deutlich, dass es nicht nur kein Neutralitätsgebot gibt, sondern auch eine Grenze des Kontroversitätsgebots. Werden die zentralen Grundprinzipien unserer Verfassung (Menschenwürde, Demokratieprinzip und Rechtsstaatlichkeit) infrage gestellt oder gar verletzt, ist es geradezu die Pflicht der Lehrkraft, keine neutrale Position einzunehmen und stattdessen diese Grundprinzipien zu verteidigen und offen für sie einzutreten. (…)“
Beutelsbacher Konsens nochmal einfach erklärt
1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, die Adressat:innen politischer Bildung – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ zu hindern.
Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination.
2. Kontroversitätsgebot
Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.
3. Adressat:innenorientierung
Die Adressat:innen müssen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. […]
