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Föderalismus auf dem Prüfstand – Bildungsgerechtigkeit in Bayern, Berlin und Sachsen im Vergleich

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Die föderale Organisation des Bildungswesens in Deutschland ermöglicht den Bundesländern weitgehende Gestaltungshoheit. Diese Autonomie hat zur Folge, dass sich in Deutschland sechzehn eigenständige Bildungssysteme entwickelt haben – mit teils erheblichen Unterschieden u. a. hinsichtlich Schulstruktur, Übertrittsregelungen und der Ausgestaltung der gymnasialen Oberstufe. Vor diesem Hintergrund bin ich in meiner Bachelorarbeit folgender Frage nachgegangen: Inwiefern begünstigen oder behindern die föderalen Unterschiede in den Schulsystemen von Bayern, Berlin und Sachsen die Realisierung von Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit?

Meine vergleichende Analyse hat markante Differenzen offenbart: Bayern und Sachsen setzen auf eine vielgliedrige Schulstruktur mit früher Differenzierung nach Klasse 4, während Berlin mit nur zwei Hauptschularten und Gemeinschaftsschulen ein integrativeres Modell verfolgt, das längeres gemeinsames Lernen ermöglicht und soziale Unterschiede besser abfedern kann.

Bei den Ganztagsangeboten ist Berlin mit flächendeckenden Strukturen führend, Sachsen befindet sich im Ausbau, während Bayern über vergleichsweise wenige Ganztagsschulen verfügt. Ganztägige Bildungsangebote sind jedoch zentral, um Kindern aus benachteiligten Milieus mehr Lern- und Förderzeit zu bieten und so Bildungsgerechtigkeit zu fördern.

Auch die Dauer der Grundschule ist entscheidend: Berlin verlängert die Primarstufe auf sechs Jahre, was mehr Zeit für individuelle Entwicklungsverläufe bietet, während Bayern und Sachsen nach vier Jahren selektieren. Diese frühe Trennung erhöht das Risiko, dass sozioökonomische Unterschiede den weiteren Bildungsweg prägen.

Die Übergangsregelungen verstärken die Unterschiede: In Bayern entscheidet das Übertrittszeugnis mit einem Notendurchschnitt bis 2,33 über den direkten Zugang zum Gymnasium; Sachsen setzt auf Bildungsempfehlungen mit einer noch strengeren Grenze (bis 2,0). Berlin hingegen trifft die Entscheidung nach Klasse 6 anhand einer Förderprognose, die ein breiteres Leistungsspektrum berücksichtigt und den Übergang ins Gymnasium mit einem Notendurchschnitt bis 2,2 ermöglicht.

Bei den Lehrplänen integriert Bayern mit dem „LehrplanPLUS“ Alltagskompetenzen und praktische Lebensvorbereitung, Sachsen modernisiert schrittweise mit politischer Bildung, Medienbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung, während Berlin auf flexible, kompetenzorientierte Rahmenlehrpläne setzt, die individuelle Förderung ermöglichen, aber weniger konkrete Lebenskompetenzen vermitteln.

Im Gymnasium zeigt sich Bayern besonders profilreich mit sechs Ausbildungsrichtungen, vielfältigen Wahlmöglichkeiten und einem neunjährigen Bildungsgang (G9), der mehr Zeit für individuelle Förderung lässt. Berlin bietet flexible Modelle innerhalb integrierter Systeme, während Sachsen am achtjährigen Gymnasium (G8) festhält und eine reglementierte Kursstruktur mit umfassender Einbringungsverpflichtung vorsieht, die die individuelle Schwerpunktsetzung der Schüler stärker einschränkt.

Besonders aufschlussreich war in diesem Zusammenhang das Experteninterview mit René Michel, dem ersten stellvertretenden Landesvorsitzenden des Sächsischen Lehrerverbands und Vorstandsmitglied des Jungen SLV. Seine Einschätzungen ermöglichen eine authentische Innenperspektive auf das sächsische Schulsystem und ergänzen die vergleichende Analyse um konkrete Erfahrungen aus der bildungspolitischen Praxis. Herr Michel beschreibt das sächsische Bildungssystem als grundsätzlich gut strukturiert und durchlässig, kritisiert jedoch die frühe Selektion nach Klasse 4 und die hohe Abhängigkeit schulischer Übergänge von Notenschnitten. Zudem betont er die unzureichende Praxisnähe im Lehramtsstudium und die fehlende pädagogische Vorbereitung vieler Nachwuchslehrkräfte. Die Lehrerausbildung sei zu theorielastig und müsse dringend reformiert werden – u. a. durch mehr schulpraktische Phasen, Coachingformate und eine bessere Verzahnung mit dem Schulalltag.

Besorgt äußert sich Herr Michel auch zum Thema Lehrkräftemangel: Sachsen stehe vor einem strukturellen Engpass, der sich in Unterrichtsausfall, Überlastung und wachsender Unzufriedenheit an Schulen niederschlage. Als Lösung fordert er eine Stärkung der Lehrergewinnung, attraktive Arbeitsbedingungen sowie eine bessere Personalsteuerung durch das Kultusministerium. Besonders deutlich positioniert sich Michel in der Ganztagsfrage: Er plädiert für den flächendeckenden, gebundenen Ganztag als Voraussetzung für mehr Chancengleichheit – dieser müsse aber mit mehr Personal, Zeit und Ressourcen ausgestattet werden, um wirksam zu sein.

Die Ergebnisse meiner Arbeit zeigen, dass es nicht um die Abschaffung föderaler Zuständigkeiten gehen sollte, sondern um ein neues Verständnis von Koordination und Vergleichbarkeit. Bildungsföderalismus darf keine Ungleichheit legitimieren, sondern muss transparente, verbindliche Standards schaffen, die echte Teilhabechancen sichern. Bildung ist kein Wettbewerbsfeld der Länder, sondern ein kollektives Gut, das gesamtgesellschaftliche Verantwortung erfordert. Diese Erkenntnis impliziert auch einen Perspektivwechsel im bildungspolitischen Diskurs: Weg von der Zuständigkeitsfrage, hin zu einer Debatte über die Verantwortlichkeit für Bildungsgerechtigkeit als gesamtgesellschaftliches Ziel.

Download:

Bachelorarbeit „Bildungsföderalismus – Ein Vergleich der Schulsysteme in den Bundesländern Bayern, Berlin und Sachsen sowie ihre Auswirkungen auf Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit“ (vorgelegt am 14. April 2025) von Marie-Theres Richter